Don Juan Archiv - Wien, Forschungsverlag
Poster EST
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"Übersetzen im Mittelmeerraum" Programm
"Übersetzen im Mittelmeerraum" Programm

Biennale EST - Europe as a Space of Translation

Übersetzen im Mittelmeerraum. Konstruktionen und Dekonstruktionen von 'Okzident' und 'Orient'.

"Europa - und darin lag seine Stärke - hatte nie eine reine Seele": so Wolf Lepenies anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2006. Die "Vermittlungstätigkeit der Araber" seit dem 8. Jahrhundert, ohne die laut Lepenies in Europa weder Renaissance noch Aufklärung möglich gewesen wären, bestand freilich in einer genauer zu benennenden Arbeit: im Übersetzen und Kommentieren. Es waren Übersetzer, die Europas Seele von Anfang an verunreinigt haben; Übersetzer, deren Spuren jeder heutigen Behauptung einer "christlichen Identität" Europas die historische Berechtigung entziehen; Übersetzer, deren Nachlass jeden Versuch, reine und unvermischte kulturelle Blöcke zu konstruieren und gegeneinander auszuspielen, zur Geschichtslüge macht.

Den Ort ihrer Tätigkeit, das Mittelmeer, beschreibt Fernand Braudel als "espace de mouvement", als einen Bewegungsraum, als einen Raum der Begegnungen und der Kollisionen, des Handels, der Piraterei, der kriegerischen Auseinandersetzungen zur See. Hinzuzufügen wäre: der kursierenden Erzählungen - und des Übersetzens. Auch durch Übersetzungsprozesse konstituiert sich dieser Raum, anhand von Übersetzungsvorgängen lassen sich immer neue interne Grenzverschiebungen im Mittelmeerraum nachvollziehen.

Das Mittelmeer selbst jedoch wird von einem weit größeren Raum umgeben, den Braudel die "plus grande Méditerranée", das größere Mittelmeer genannt hat, und eine Archäologie des Übersetzens kann in den Falten dieses Raums seine eingestülpten anderen Räume aufspüren. In den Osten wandernde griechischsprachige Syrer, in den Westen wandernde pahlewisprachige Perser, arabischsprachige koptische Christen, persischsprachige muslimische Araber tradieren - übersetzend - im Bagdad des 8.- 10. Jahrhunderts zentrale, zum Teil bereits ins Syrische/Aramäische übersetzte philosophische, medizinische, naturwissenschaftliche Texte der griechischen Antike ins Arabische; arabischkundige spanische Juden und lateinischsprechende spanische Christen übersetzen ab dem 12. Jahrhundert die arabischen Manuskripte im "zurückeroberten" Al-Andalus ins Lateinische. Europa hat sein hellenisches Erbe über arabische Übersetzer erhalten, mehr noch: die für die Katholische Kirche kanonisch gewordenen Texte der Scholastik - des theologischen Versuchs, Offenbarungsreligion mit den Ansprüchen rationalen Philosophierens zu verbinden -, allen voran die Texte des Thomas von Aquin, verdanken sich der Auseinandersetzung mit den auf verschachtelte Übersetzungsprozesse zurückgehenden lateinischen Texten des Philosophen des christlichen Mittelalters, Aristoteles, und des arabischen Kommentators aristotelischer Schriften, Averroes. Auf Sizilen hat die arabische Herrschaft der bereits bestehenden Vielsprachigkeit der Eliten eine Sprach-Facette hinzugefügt; die noch griechischsprachigen ehemaligen Untertanen des byzantinischen Reichs haben ihre vor allem diplomatischen Kontakte zu Byzanz auch unter den Arabern, den Normannen und den Staufern nicht abreißen lassen und nutzen sie unter anderem zum Erwerb von Manuskripten, die sie ins Lateinische übersetzen - zu einer Zeit, als in Kastilien schon nicht mehr aus dem Arabischen ins Lateinische, sondern in die an Prestige gewinnende Volkssprache übersetzt wird.

Doch das sind verhältnismäßig tiefe Schichten der mediterranen übersetzerischen Vermischungstätigkeiten. Im frühen 18. Jahrhundert erscheint eine aus dem Arabischen übersetzte Sammlung von "Erzählungen aus Tausend und einer Nacht" des sich für den "Orient" begeisternden Franzosen Galland, die für das europäische Imaginäre einen frühen Baustein für die Konstruktion des Orients als das (zunächst exotische und faszinierende) Andere des Okzidents darstellt. Diese "arabischen Erzählungen" verlängern das Mittelmeer nicht nur in den Osten bis nach Persien und Indien, sondern auch in den Süden, von den Hafenstädten an den Küsten auf die arabische Halbinsel und bis in die subsaharischen Zonen Afrikas.

Zweieinhalb Jahrhunderte zuvor schon hatten allerdings die Osmanen Konstantinopel eingenommen und den östlichen Mittelmeerraum nach und nach bis vor die Befestigungsanlagen der Stadt Wien ausgedehnt, ein letztes Mal 1683: ein Datum, mit dem ein ambivalenteres Imaginäres aufgeladen wird und mit dem sich Wien zum Gedächtnisort des "Siegs des christlichen Abendlandes" gegen die drohenden Türken und damit den Islam installieren ließ. Übersetzungen schreiben "Wien 1683" in den mediterranen Raum stricto sensu zurück - Übersetzer sind es aber auch, die im 19. Jahrhundert im Kontext der diplomatischen Beziehungen zwischen Wien und Konstantinopel an den "positiven Anteilen" dieser Ambivalenz sich inspirieren. Joseph von Hammer-Purgstall, Diplomat, Übersetzer und Begründer der Osmanistik vergrößert ein weiteres Mal den Mittelmeerraum, über Konstantinopel hinaus, und übersetzt den Diwan des Persers Mohammed Schemsed-din Hafis - mit den bekannten Folgen in der deutschen Literatur.

Die "deutsche Literatur": immer offenkundiger wird der Scheincharakter einsprachiger nationaler Literaturen (die ohnehin zu einem Gutteil aus übersetzten Texten bestehen), immer deutlicher aber wird auch, dass heutige Übersetzer und Übersetzerinnen sich, nicht anders im übrigen als die Übersetzer im vormodernen Mittelmeerraum, in plurilingualen Kontexten bewegen. Und immer mehr Menschen leben - gezwungenermassen - und schreiben in einer anderen Sprache als derjenigen, mit der sie aufgewachsen sind. Zu einer postkolonialen tritt eine migratorische Sprachsituation, und wieder ist für Europa der eigentliche wie der größere Mittelmeerraum Schauplatz der Friktionen, der Vermischungen, der unreinen Identitäten. Grund genug, die Reinheits-Phantasmagorien diverser Provenienz mit der geschichtlichen Realität professioneller Verschmutzer zu konfrontieren, und den Ansprüchen auf ein ungeteiltes europäisches Erbe mit der Sichtbarmachung derjenigen entgegenzutreten, durch deren Hände es immer wieder zu gehen hatte: der west-östlichen Übersetzer und Übersetzerinnen.

Die einzelnen Vorträge, Gespräche, Lesungen, "Life-Übersetzungen" spiegeln diese variantenreiche Geschichte und Aktualität wider und richten sich einerseits an ein akademisches, andererseits an ein allgemein literarisch interessiertes Publikum:

"Vienna porta Orientis", "Übersetzen im Mittelmeerraum", "Don Juan auf der Reise durchs Mittelmeer", "Don Juans Frauen übersetzen sich in Szene", "Übersetzte Räume des Orients", "Leben und Schreiben in Übersetzungen".

Veranstaltungsorte sind die Österreichische Akademie der Wissenschaften, das Literaturhaus, der Universitäts-Campus, das Volkstheater, das "Aux Gazelles".

 

Projektbetreuung und Webseitentext: Biennale EST, Johanna Borek

 

 

Letztes Update: 11.02.2015